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Was passierte mit dem kontinentalen Wohlfahrtsstaat?


Prof. Dr. Anton C. HemerijckDer Autor:
Prof. Dr. Anton C. Hemerijck
ist seit 2003 Direktor des Wissenschaftlichen Rates der Niederländischen Regierung (WRR) und lehrt seit 2006 vergleichende europäische Sozialpolitik an der Universität



KURZFASSUNG

Ist der kontinentale Wohlfahrtsstaat fit für das 21. Jahrhundert? Schleppendes Wachstum und eine schwer in den Griff zu bekommende Arbeitsplatz-Schaffung um die Jahrtausendwende ebneten den Weg für eine verbissene ideologische Schlacht zwischen unterschiedlichen "Wirtschaftsmodellen" und lösten politische Streitigkeiten aus. Ein kurzer Blick auf die Werbekampagne zur französischen Volksabstimmung 2005 über den Verfassungsvertrag zeigte den Disput zwischen zwei polarisierten Standpunkten auf. Die französische Version des europäischen Sozialmodells wurde gegen das falsche Stereotyp des "angelsächsischen" Kapitalismusmodells, angeblich einem "freien Markt ohne Sicherheitsnetz", in dem es ein großes Ausmaß an Armut und Ungleichheit gibt, gegenübergestellt. Und dazu kommt die aktuelle Finanzkrise, die in eine Wirtschaftskrise übergeht.

Der umfassende Charakter der sozialen und wirtschaftlichen Reformpolitik in den meisten sog. kontinentalen Wohlfahrtssystemen inkl. der sechs Gründungsstaaten der EU – Deutschland, Frankreich, Italien und der Benelux-Staaten – zusammen mit den späteren Mitgliedsstaaten Spanien, Portugal, Griechenland und Österreich befinden sich seit Mitte der 1990-er Jahre im Streit mit dem vorherrschenden Modell einer "eingefrorenen Wohlfahrtslandschaft". Wenn man nun darauf hinweist, dass die kontinentalen Wohlfahrtsstaaten wie etwa der anglo-irische und der skandinavische bei weitem nicht veraltet sind, heißt das aber nicht, dass sie gut in Form sind.

Es wurden die Themen der Arbeit und der Wohlfahrt immer mehr mit dem Prozess der politischen und wirtschaftlichen Integration seit den 1980-er Jahren verflochten, so dass wir nun in die Ära des halbsouveränen Wohlfahrtsstaates eingetreten sind. Seit Mitte der 1990-er Jahre hat die EU eine viel aktivere Rolle als Richtungsgeber für die Sozialpolitik übernommen. Die europäische Beschäftigungsstrategie auf der Basis des neuen Beschäftigungstitels des Amsterdam Vertrags, der im Jahr 1997 gestartet wurde, ist ein Beispiel für die neue Rolle der EU als Planungsstelle für die Koordinierung der politischen Maßnahmen, die eher zur Katalysierung als zur Steuerung der nationalen sozialpolitischen Reformen entworfen wurden. Mit dem Typus des Bismarckschen Systems, das die große Mehrheit der EU-Mitgliedsstaaten übernommen hat, wird es für die EU noch problematischer – entsprechend der Lissabon Agenda – die wettbewerbsfähigste Wirtschaft der Welt zu werden.

Der Artikel ist wie folgt aufgebaut: Der 2. Abschnitt liefert Vergleichsdaten von vergleichbaren Beschäftigungen, um die spezielle Schwäche des kontinentalen Wohlfahrtsregimes hervorzuheben, zusammen mit seinen jüngsten Verbesserungen. Danach bietet Abschnitt 3 eine diachronische qualitative Analyse des Ablaufs und Anwendungsbereichs der Reform der Sozialpolitik verschiedener politischer Bereiche in kontinentalen Wohlfahrtssystemen. Der Überblick zeigt, dass die 1990-er und frühen 2000-er Jahre eine Epoche intensiver politischer Neuerungen in europäischen kontinentalen Wohlfahrtsstaaten waren. Zusammenfassend wird im 4. Abschnitt mittels Verwendung einer Lebenszyklusperspektive aufgezeigt, was nach Meinung des Autors die unvollendete Sozialreformagenda für die meisten kontinentalen Wohlfahrtsstaaten heute immer noch ist.

Zuletzt aktualisiert am 28. Februar 2022